Das Pendel der Gewalt

Ich erinnere mich nicht an den Schmerz in meinem Gesicht. An die Überraschung schon, und an die Verwirrung, die sich sofort in mir ausbreitete. Auch an die Wut, die auf die Demütigung folgte, in der Öffentlichkeit geohrfeigt worden zu sein. Aber ich glaube nicht, dass ich irgendwelche körperliche Schmerzen hatte. Keine Schwellungen, kein blaues Auge. Und ganz sicher hatte ich keine Angst um mein Leben. Aber ich hatte, wie ich viel später erst bemerkte, Angst vor ihr - und das schon eine ganze Weile.

Am liebsten wäre ich davongelaufen, um Abstand von ihr zu gewinnen, von dem unaufhörlichen Geschrei und den Vorwürfen, vor den Wellen ihrer Wut, die mich immer wieder überrollten. Aber an Flucht war nicht zu denken. Wir standen in einer Schlange vor einem Flugzeug, und leider gibt es keine ausgewiesenen Fluchtwege für den Weg hinein. Um uns herum nur verwunderte Blicke: das easyJet-Bodenpersonal war sichtlich verlegen. Es kommt wahrscheinlich auf deutschen Flughäfen nicht oft vor, dass ein großer blonder Mann von einer zierlichen Frau geohrfeigt wird.

Angefangen hatte alles mit einer einfachen Frage – und einer weniger einfachen. Joy war schon seit zwanzig Minuten weg, und ich wurde langsam nervös. Die Schlange hatte sich komplett durch den Check-in-Schalter geschoben, und ich war der einzige, der noch wartete. Ich bin mir nicht sicher, warum ich ihren schlurfenden Schritt ignorierte, als ich sie auf mich zukommen sah. Es war noch früh am Morgen, und sie hatte schlecht geschlafen. Ich war schon den ganzen Morgen auf Zehenspitzen um sie herumgeschlichen. Um genau zu sein, war ich schon zwei Jahre lang auf Zehenspitzen um sie herumgeschlichen, seit bei ihr Burnout und Depressionen diagnostiziert worden waren.

“What have you been doing? Have you been hanging out?” 

Sie zögerte nicht den Bruchteil einer Sekunde, als ob eine Ohrfeige die natürlichste Reaktion auf diese Frage sei.  

Ich wusste überhaupt nicht, wie mir geschah. Verzweifelt schaute ich mich um, um abzuschätzen, wer das alles gesehen hatte. Es schien aber niemanden zu interessieren. Und mich schien es auch nicht zu interessieren. In einer Bewegung, die sich nur als ausweichend bezeichnen lässt, setzte ich meine Kopfhörer auf und flüchtete mich in die vermeintlich beruhigende Welt der Musik.  

Das hielt Joy aber nicht davon ab, mich weiter zu beschimpfen. Auch wenn ich nicht wirklich verstand, was sie sagte, konnte ich sie immer noch hören und ihre Wut spüren. Leider war die maximale Lautstärke auf meinem Handy bereits erreicht. Ich erinnere mich an einen Gedanken, der mir durch den Kopf ging, die offensichtliche und endgültige Lösung all unserer Beziehungsprobleme: Ich sollte mir wirklich bessere Kopfhörer kaufen.  

Die Gelegenheit, ihr mutig entgegenzutreten, kam, als sich die Schlange teilte. Joy und ich hatten keine Plätze nebeneinander reserviert, da sie unseren Urlaub mit einem Urlaub von mir beginnen wollte. Kurz bevor ich zum Hintereingang des Flugzeugs ging, vorbei an der Tragfläche mit dem heulenden Motor, holte ich zum Gegenschlag aus.    

“If you ever do this again, I’ll break your nose, walk away and never talk to you again.”

Etwa 20 Reihen hinter ihr sitzend, schlief ich mit reinem Gewissen ein. Als ich aufwachte, wollte mir der ganze Vorfall wie ein Traum erscheinen. Wie eine Episode aus einem alternativen Universum, in dem ich wieder ein Kind war, oder eine Frau. Und sofort machte ich mir Sorgen um Joy. Immerhin war es ein anstrengender Morgen für sie gewesen. Also steckte ich das letzte bisschen gesunden Menschenverstand und Selbstachtung in die Gepäckablage und ging nach vorne, um nach ihr sehen:

"Are you ok? I’m so sorry for earlier!"

Seit diesem Tag stelle ich mir immer wieder dieselbe Frage: hatten wir eine Beziehung, die als missbräuchlich bezeichnet werden sollte? 

Diese Frage zu stellen, fühlt sich an wie Verrat. An Joy, an unserer Beziehung, an uns. Es fühlt sich an, als würde ich ihr die Schuld für etwas geben, das nicht ihre Schuld ist, da es immer außerhalb ihrer Kontrolle gelegen hatte. Missbrauch ist ein so hässliches Wort, voller Assoziationen von Gewalt und Schwäche, die ich nicht in Einklang bringen kann mit dem, wer ich bin und was wir durchgemacht haben.  

Auch möchte ich Joy nicht an den Pranger stellen. Denn das würde das ehrgeizigste Beziehungsprojekt, von dem ich je Teil sein durfte, auf eine paradoxe Art entwerten. Wir begannen unsere Beziehung kurz bevor #metoo begann. Endlich fühlte sich Joy in der Lage, offen über all die Belästigungen und Demütigungen zu sprechen, die ihr diverse Männer angetan hatten. Voller Frust und Trauer erklärte sie mir ihre Welt, und ich versuchte, sie zu verstehen und mitzufühlen.

Gleichzeitig begann ich, die Vorstellungen von Männlichkeit, mit denen ich aufgewachsen war, zu hinterfragen. Nur wenige Wochen zuvor war ich von einem anderthalbjährigen Aufenthalt in Vietnam zurückgekehrt, wo ich mehrfach von einem anderen Mann sexuell belästigt worden war. Das hatte mich stark verunsichert. Ich hatte bis dahin hauptsächlich als Mann unter Männern gelebt: in Sportvereinen, beim Militär, in meiner Familie und in meinem Freundeskreis. Aber viele Männer in meinem Umfeld konnten diese Erfahrung überhaupt nicht nachvollziehen. Offensichtlich macht es unsere Art von Männlichkeit nicht nur möglich, andere leicht zu Opfern zu machen, sondern auch unmöglich, sich selbst als Opfer zu denken.

Also begann ich, Frauen zuzuhören, und ihren Geschichten von Missbrauch und Belästigung. Und sie hörten sich die eine Geschichte an, die ich zu erzählten hatte. Vor mir öffnete sich eine ganze Welt, in die ich zuvor nur einen flüchtigen Blick geworfen hatte. Dabei wurde mir klar, dass ich eine lange und komplizierte Reise vor mir hatte. Ich brauchte einen Führer - und Joy wurde diese Führerin.

“Blame me, beat me – and feel better about yourself!” 

Das hatte ich ihr einmal geschrieben. Es war ein Scherz – und gleichzeitig ganz und gar nicht. Ich wollte sie vollständig entfesseln, damit sie als Korrektiv auf mich einwirken konnte. Ich wollte mich ändern und verändert werden. Ich glaube, ich habe mich nicht einfach nur missbrauchen lassen, sondern im Grunde genommen darum gebettelt.

Zunehmend verinnerlichte ich, dass mein männliches Ego das Problem war. Wann immer Joy getriggert wurde, gaben wir mir die Schuld. Ich hielt ihre Wut und Tränen für einen Ausdruck höherer Weisheit. Mein älteres Ich zu sein, war bald keine Option mehr. Sie konnte es nicht ertragen, wenn ich ihr nicht das Maß an Respekt und Mitgefühl entgegenbrachte, das sie ihrer Meinung nach verdiente.

Vielleicht ist das der Grund, warum ich ihr im Flugzeug so schnell verzeihen wollte: Joy hatte nicht mich, sondern eine ältere Version von mir geohrfeigt. Ein unsensibles Ich, das unverschämt sarkastische Fragen zu stellen pflegte. Damit ärgerte ich nicht nur sie, sondern blamierte mich selbst.  Ich blieb hinter unseren Erwartungen an mich zurück, und sie tat nur ihre Pflicht, mich daran zu erinnern. 

*

In Madrid gelandet durchquerten wir wortlos den Flughafen. Und als wir uns schließlich setzten, war ich bereit, ihre Entschuldigung anzunehmen. Sie hatte ein paar Stunden Zeit gehabt, über alles nachzudenken. Zudem war sie jemand, der sich selbst und sein Handeln mit Abstand betrachten und zwischenmenschliche Interaktionen messerscharf analysieren konnte.

“It’s all your fault!”

Zuerst dachte ich, ich hätte sie missverstanden. Angesichts der Ereignisse, wie ich sie erlebt hatte, war ich überzeugt, dass sie sich vor mir in den Sand werfen und ihr Haupt mit Asche bedecken würde. Stattdessen aber warf sie mir den Sand in die Augen und die Asche hinterher.

“I had no choice. That tone in your voice. How could you?”

Sie war völlig leer, erschöpft und schluchzte vor sich hin. Doch irgendwie schaffte sie es, mich gleichzeitig weiter zu beschimpfen. Ich nickte unablässig mit dem Kopf, als ob ich mich körperlich davon überzeugen wollte, dass an ihren Vorwürfen etwas Wahres dran wäre. Ich empfand Mitleid mit ihr, mit ihrem offensichtlichen Schmerz, und doch wies ich alles zurück, was aus ihrem Mund kam. Ich hätte nie gedacht, dass jemand so daneben liegen könnte, schon gar nicht sie. In diesem Moment zerbrach etwas in mir, und ich verstand, was gaslighting wirklich bedeutet.

Doch Joy war hier kein bewusst manipulativer Akteur. Auch sie kämpfte für ihre Wahrheit, ihre Würde und ihre Selbstachtung. Vor meinen Augen konstruierte sie – wieder einmal – eine Welt, in der sie das Opfer eines Angriffs gewesen war. Jedes Wort von ihr, jede Träne war eine Anklage. Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich ohnmächtig gefühlt. In ihrer Kindheit war sie beständig gedemütigt, geschlagen und in enge Schranken gewiesen worden. Es war ihr unvorstellbar, selbst als Aggressor aufzutreten. Jeder Wutausbruch, jede Gewalttat musste innerlich als Reaktion, als legitime Selbstverteidigung verbucht werden.

Als wir das Mietauto abholten, funktionierte ich noch ohne Probleme. Wir fuhren etwa 45 Minuten zum Haus ihres Cousins. Es war eine ruhige Fahrt. Wir konzentrierten uns auf die Landschaft und den Verkehr. Wir sprachen kaum miteinander, nicht einmal über die Hochzeit ihres Cousins, die am nächsten Tag stattfand.   

Aber als ich schließlich den Motor abstellte und aus dem Auto stieg, konnte ich den Boden nicht mehr finden. Ich befand mich im freien Fall. Worte konnten mit dem Chaos in mir nicht mithalten. Jedes Mal, wenn ich etwas sagen wollte, jedes Mal, wenn ich mein Schweigen erklären wollte, wurden die Worte, die ich mir zurechtlegte, als unzureichend erachtet. Nichts machte mehr Sinn. Ich konnte weder mich noch meinen Körper spüren. Ich war völlig leer und überwältigt zugleich. Nie zuvor und nie wieder danach habe ich mich je so gefühlt.

Aber es war doch nur eine Ohrfeige…

Aufs Joys Gesicht sah ich Panik aufsteigen. Ihrem Cousin und seiner Frau, die aus ihrem Haus zu uns herüberkamen, konnte ich kaum zur Begrüßung die Hand reichen.     

"He got carsick on the way here.”

Die Art und Weise, wie Joy sich verstellen konnte, mühelos und ohne zu zögern, erstaunte mich immer wieder. Selbst in Momenten von Unwohlsein und Angst hatte sie stets das perfekte Lächeln und die richtigen Worte. 

"Everything’s fine." 

Das waren meine letzten Worte für mehrere Stunden. Ich ließ mich widerstandslos ins Gästezimmer führen und aufs Bett legen. Ich löste Joys Hand von meiner Schulter und wandte mich ab. Ich war jetzt kein erwachsener Mann mehr. Ich fühlte mich schwach und lächerlich. Doch ich konnte nichts gegen diese Apathie tun. Ich war gelähmt vor Scham.

Wenn die Leute herausfinden, dass mich meine Freundin geschlagen hat...

Ich denke nicht gerne an diese Stunden zurück. Nicht, weil ich mich immer noch dafür schämen würde, was mir passiert ist. Sondern weil es unglaublich unangenehm ist, sich in den Mann hineinzuversetzen, der ich an diesem Nachmittag war.

Wieder spüre ich die Glätte der Röhre, die ich hinunterrutschte. Und immer noch finde ich nichts, woran ich mich festhalten könnte. Diese Erfahrung war mir so fremd und unerklärlich. Sie ließ sich in kein Narrativ einordnen, das mir zu Verfügung stand. Hätte mich ein anderer Mann verprügelt, wäre das wahrscheinlich in Ordnung gewesen. Das ist es schließlich, was Männer tun.

Krampfhaft versuchte ich, mich an eine Art Archetypus zu klammern, der in der Lage gewesen wäre, meine Gedanken zu leiten. Doch das erwies sich als unmöglich. Wir Männer werden dazu erzogen, andere zu verletzten. Selbst zum Opfer zu werden bedeutet in der Regel, dass man im Kampf verloren hat – gegen andere Männer. Das ist durchaus ehrenvoll. Weil man gekämpft hat. Aber es gibt bestimmte Opferidentitäten, die uns praktisch nicht zugänglich sind. Selbst heute noch schließt unsere Definition von Männlichkeit sie schlicht aus. Dieser Logik nach kann ein „echter“ Mann kein Opfer von sexuellem oder körperlichem Missbrauch werden. Ein echter Mann würde sich nämlich wehren. Ich habe mich aber nicht gewehrt. Ein echter Mann würde lieber im Kampf sterben, als dass er so eine Schmach aushält.

Betraute ich an diesem Nachmittag in Madrid meine verlorene Ehre?

Es heißt, Liebe besiege alles. Ob das wirklich stimmt, weiß ich nicht. Aber auf jeden Fall hat sie meine Würde, Selbstachtung und sogar meine Identität als Mann schwer beschädigt. Das muss aber nicht notwendigerweise etwas Schlechtes sein. Nichts hat meinen Blick auf die Welt so umfassend verändert, wie selbst zum Opfer meinesgleichen geworden zu sein: zum Objekt männlicher Begierde und missbraucht von der Person, die ich am meisten auf dieser Welt liebte.  

In gewisser Weise bin ich Joy also sogar dankbar. Sie hat die Zwiebel konsequent bis zum Ende geschält. Ihr verdanke ich letztlich ein viel tieferes Verständnis für meine eigene Gefühlswelt - und für die Gefühlswelten der Menschen um mich herum.

Auch hätte ich ohne sie meine Tante nie wiederentdeckt. Denn diese war – zu meiner eigenen Überraschung – die einzige Person, die ich am Ende der Röhre fand und an die ich mich klammern konnte. In ihrem Leben kam ich an. Aber Trost konnte ich dort leider keinen finden.

Ich hatte mich nie besonders für diesen Aspekt ihres Lebens interessiert, obwohl ich recht genau wusste, was sie durchgemacht hatte. Für eine kurze Ewigkeit hatte sie mit einem gewalttätigen Ehemann gelebt. Volle fünf Jahre lang hatte er sie gelegentlich geschubst, gewürgt, geschlagen und mit dem Gesicht voraus auf den Boden geworfen.  

Diese Geschichte hatte ich nie hören wollte. Ich wollte keine Details wissen und mich nicht einmischen. Aber ich wusste, dass in dem kleinen Haus am Hügel hässliche Dinge passiert waren, über die niemand sprach.

Einmal, als sie mit dem Auto nach Hause fuhren, erlaubte meine Tante ihrem Sohn, ein Eis zu essen. Eigentlich gab es eine Regel, die besagte, dass es nicht erlaubt war, im Auto meines Onkels zu essen. Doch mein Onkel sagte nichts. Als sie zu Hause ankamen, ging er ruhig ins Haus, wartete, bis mein Cousin auf seinem Zimmer verschwunden war und packte dann meine Tante am Hals. Er schüttelte sie und schrie sie an. Er hob sie hoch und warf sie auf den Steinboden, wobei er ihr das Jochbein zertrümmerte. Er packte sie an den Haaren, zog sie wieder hoch und warf sie erneut auf den Boden.

Mein Cousin ging dazwischen. Er war damals ein Teenager, vielleicht 15 oder 16 Jahre alt, und hatte eigentlich nicht die Schultern, um diese Verantwortung zu tragen. Er drängte sich zwischen seine Mutter und seinen Stiefvater und entzog sie ihm. Er brachte sie auf ihr Zimmer und rief einen Arzt. 

Ein paar Stunden später wollte mein Onkel ihr eine Tasse Tee bringen. Es war eine vorsichtige Geste der Entschuldigung. Aber sie schickte ihn weg, ihn und seinen Tee, so wie ich Joy weggeschickt hatte. Das Pendel der Gewalt schlug nun in die andere Richtung aus. Ich kann die Befriedigung nachvollziehen, die diese Abfuhr für sie bedeutete. Und ich kann mir vorstellen, wie das meinen Onkel mit noch mehr Wut und Aggression erfüllt haben muss.

Misshandelnde, gewalttätige Männer terrorisieren ohne Zweifel ihre Umgebung stärker als misshandelnde Frauen. Und die Gefühle von Angst, Hilflosigkeit und Hass, die sie bei anderen auslösen, sind sicherlich extremer. Aber ich habe keinen Zweifel daran, dass sich alle Täter*innen unter ihrer Wut genau gleich fühlen: klein, machtlos, überfordert und zutiefst beschämt.

Wenn sie andere misshandeln, tun sie das nie aus einer Position der Stärke heraus. Sie versuchen nur, aus einer vermeintlichen Ecke herauszukommen. Sie haben das Gefühl, dass sie jedes Recht haben, um sich zu schlagen, weil sie den Kampf nicht begonnen haben. Die Angst, überrollt zu werden, setzt einen Automatismus in Gang, und sie haben nicht immer die Mittel, ihn aufzuhalten.   

Nach meiner Erfahrung mit Joy verstehe ich nun, dass mein Onkel vielleicht jemand war, den es zu fürchten galt, aber niemanden, den man hassen oder verachten muss. Genau wie ihre Gewalt war seine Gewalt ein Ausdruck von Hilflosigkeit und Unzulänglichkeit.   

Im Nachhinein wusste mein Onkel, dass seine Reaktion völlig unverhältnismäßig gewesen war. Er wusste, dass seine Entschuldigung völlig unzureichend war. Und er wusste, dass er als Person völlig unzureichend war: er fühlte sich minderwertig und nahm es meiner Tante übel, dass er sich so fühlte. Er nahm ihr übel, dass sie ihn gezwungen hatte, sie zu schlagen, und dass er sich dafür schämte. Genau dieser Groll war der Grundstein für seinen nächsten Missbrauch, seine nächste Explosion. Dazu brauchte es nur einen Anlass.  

Meine Tante wusste das. Den Rest ihrer Ehe schlief sie mit einem Hammer unter dem Kopfkissen.

*

Ein paar Monate nach der Ohrfeige und wenige Wochen nachdem Joy und ich uns getrennt hatten, besuchte ich meine Tante. Zum einen wollte ich mit jemandem reden, ohne Angst vor Verurteilung haben zu müssen. Zum anderen waren mir in Madrid klar geworden, wie wenig ich eigentlich über ihre Geschichte wusste. Am meisten interessierte mich, wie sie aus ihrer Ehe herausgekommen war. Und noch nie hatte ich mich ihr so nahe gefühlt, wie in dem Moment als ich erfuhr, dass auch sie nicht in der Lage gewesen war, die Beziehung selbst zu beenden. Mein Onkel hatte einfach eine andere Frau im Internet kennen gelernt und war ausgezogen.

Auf eine groteske Art war ich glücklich zu hören, dass auch sie in dieser Hinsicht versagt hatte und wir also an einem ähnlichen Mangel an Willenskraft litten. Ich für meinen Teil hatte mich auch nicht von Joy trennen können, obwohl es nach unserer Reise nach Madrid nur noch schlimmer geworden war. Es war Joy, die mich schließlich bat, sie gehenzulassen, und uns dadurch beide erlöste. Frei war ich deshalb aber noch lange nicht. Es dauerte fast ein Jahr, bis ich mich vollständig von ihr und ihren Problemen, die mich jahrelang erfüllt hatten, lösen konnte.  

Manchmal, wenn ich das Gute und das Schlechte unserer Beziehung abwäge, weiß ich nicht, ob ich Joy gegenüber nachsichtig bin oder ob ich noch unter Stockholm-Syndrom leide. Dank ihr bin ich sensibler für den Schmerz anderer geworden. Einfach dadurch, dass ich selbst Leid erfahren habe. Und deshalb möchte ich ihr dankbar sein und ihr die Qualen verzeihen, die sie mir zugefügt hat. Unsere Beziehung war eine enorme Lernerfahrung, die ich nicht missen möchte. Ich hätte es allerdings nie für möglich gehalten, dass die Grenze zwischen Wachstum und Missbrauch so fließend sein kann.

Es mag seltsam klingen, aber ich verurteile niemanden mehr von uns vieren. Sogar für meinen ehemaligen Onkel habe ich eine viel nachsichtigere Sichtweise entwickelt, ja sogar Mitgefühl. Ich verstehe jetzt das Gefängnis aus Scham und Verleugnung, in dem er lebt. Er ist kein Bösewicht mehr, sondern eine Erinnerung daran, was mit mir geschehen könnte, wenn ich mich von meiner Wut und meinen Impulsen auffressen lasse. Er ermahnt mich, mich nicht den Unterwerfungs- und Auslöschungsfantasien gegenüber anderen nachzugeben, die mir mein verunsichertes männliches Ego von Zeit zu Zeit vorsetzt, um sich selbst zu stabilisieren.  

Vor allem aber verurteile ich mich nicht mehr dafür, dass ich in der Öffentlichkeit geohrfeigt wurde und nichts dagegen unternommen habe. Und ich erkenne jetzt, dass ich selbst Angst hatte, von meiner Tante verurteilt zu werden, weil ich sie vorher selbst verurteilt hatte.

Ich dachte immer, eine Frau, die bei einem Mann bleibt, der sie einmal schlägt, bittet darum, erneut geschlagen zu werden. Und eine Frau, die bei einem Mann bleibt, der sie immer wieder schlägt, hat einfach nichts Besseres verdient. Ich hatte großes Glück, dass ich selbst nie Opfer meiner eigenen Ignoranz wurde. Und ich hatte Glück, dass Joy mir einen Ausweg aus diesem Dilemma bot. Denn ich bezweifle sehr, dass ich ihr die Nase gebrochen und sie verlassen hätte, wenn sie jemals wieder ihre Hand gegen mich erhoben hätte. Alles, was ich in dieser Beziehung über mich gelernt habe, deutet auf das genaue Gegenteil hin: ich wäre geblieben, bis zum bitteren Ende. Wie ein richtiger Mann eben.  

Früher hätte ich meine Tante nach dieser Phase in ihrem Leben gefragt, um ihr zu beweisen, wie falsch sie gelegen hatte. Ohne wirklich zuzuhören hätte ich mir meine eigenen Fragen beantwortet und meine Tante selbstgerecht verurteilt. Aber das Innere von Joys rechter Hand hat mein Selbstvertrauen und viele Gewissheiten erschüttert. Noch heute suche ich nach einem Gleichgewicht, das ich hoffentlich nie wiedererlangen werde. Als ich meine Tante also jetzt fragte, war ich endlich bereit, ihr zuzuhören. Und ihrer Geschichte, die unsre ist.

Ingo Schoenleber