Konsistenz ist der Schlüssel: Psychische Grundbedürfnisse in der Schule

Der legendäre koreanische Film Oldboy erzählt die Geschichte von Oh Dae-su, der eines Tages in einem zur Gefängniszelle umgebauten Hotelzimmer aufwacht. Er hat keine Ahnung, wo er ist, warum er dort ist und wie lange er bleiben muss. Das wird sich im Laufe der Gefangenschaft auch nie ändern. Er ist in seiner Zelle völlig allein und hat keinerlei Kontakt zu anderen Menschen. Seine Versuche, mit der Person Kontakt aufzunehmen, die ihm das Essen bringt, werden abgewiesen. Er hat praktisch keine Entscheidungsfreiheit: wann und was er isst, wann er auf Toilette darf, was er machen darf – z.B. Fernsehen – wird ihm diktiert.

Aus Angst vor Bestrafung macht er alles, was ihm gesagt wird, und richtet seine gesamte psychische Energie darauf, sich unauffällig zu verhalten. Er fristet eine völlig freudlose Existenz ohne Abwechslung, weshalb es ihm auch zunehmend schlechter gelingt, seine Ängste und Gefühle von Panik in den Griff zu bekommen. Mit dem Mut der Verzweiflung versucht er zuerst auszubrechen und später sogar sich das Leben zu nehmen. Alle seine Bemühungen aber werden vereitelt. Er muss schließlich erkennen, dass er nicht in der Lage ist, aus eigener Kraft dieser Situation zu entkommen. Nach 15 Jahren wird Oh Dae-su genauso plötzlich entlassen, wie er entführt worden ist und begibt sich auf die Suche nach den Verantwortlichen für sein Martyrium.

Bei der Lektüre dieser Geschichte ist leicht zu erkennen, dass dieses Erlebnis tiefe Spuren in der Psyche von Oh Dae-su hinterlassen wird. Wir können sein Leid in großen Teilen nachvollziehen. Auch wenn wir natürlich nicht wissen können, was 15 Jahre in dieser Situation mit uns selbst machen würden.

Choi Min-sik and Kang Hye-jung in Oldboy. (Photo credit: MovieStillsDB)

Oldboy hat mehr mit Schule und Unterricht zu tun, als es vielleicht auf den ersten Blick den Anschein hat. Keine Kontrolle, andere machen mit uns, was sie wollen und abhauen kann man auch nicht. Und was sich viele Schülerinnen und Schüler wahrscheinlich regelmäßig fragen: warum genau bin ich eigentlich hier?

Als Lehrer vergessen wir manchmal, wie sich Schule für Schüler anfühlen kann.

Kein Zweifel: der Vergleich ist gewagt. Aber sich darauf einzulassen, kann erhellend sein. Um die Parallelen noch klarer zu machen, wechseln wir für einen Moment von der konkreten Erfahrung von Schule und Gefangenschaft auf die abstraktere Ebene der psychischen Prozesse.

Die Frage ist also: warum reagiert Oh Dae-su mit großem Unwohlsein und schließlich mit einer Depression? Was genau passiert in seinem Inneren?

Die Konsistenztheorie des Psychologen Klaus Grawe liefert uns hier entscheidende Hinweise. In dieser geht er davon aus, dass eine schwere und dauerhafte Verletzung von Grundbedürfnissen die wichtigste Ursache für die Entwicklung psychischer Störungen ist.

Diese psychischen Grundbedürfnisse sind bei allen Menschen vorhanden. Und während ihre Nichtbefriedigung zu Problemen führt, hat ihre Befriedigung ausgesprochen positive Folgen für das Wohlbefinden und die kognitive Entwicklung des Menschen. Dieser optimale Zustand wird von Grawe als Konsistenz bezeichnet: ein Zustand des Organismus, der die Übereinstimmung bzw. Vereinbarkeit aller gleichzeitig ablaufenden neuronalen Prozesse meint.

Konsistenz ist damit das Grundprinzip des psychischen Funktionierens. Sie ist aber kein Grundbedürfnis, sondern ist vielmehr als Prinzip der innerorganismischen Regulation allen Einzelbedürfnissen übergeordnet. Vereinfacht ausgedrückt: Konsistenz erfahren wir dann, wenn alle unsere psychischen Grundbedürfnisse befriedigt werden. 

Die Konsistenzregulation spielt dementsprechend eine sehr wichtige Rolle. Im psychischen Geschehen des Menschen laufen sehr viele Prozesse parallel ab. Der Großteil davon ist auf die Befriedigung der Grundbedürfnisse ausgerichtet. Wenn ein Mangelzustand auftaucht, wird die Aktivität des Organismus automatisch so ausgerichtet, dass der Mangelzustand behoben wird.

Das ist für uns Lehrkräfte eine zentrale Einsicht, ist doch die Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit unserer Lernenden die Voraussetzung, dass Lernen überhaupt stattfinden kann. Wenn ihre Grundbedürfnisse aber nicht befriedigt werden, wird sich ein zunehmender Teil ihrer geistigen und körperlichen Aktivität darauf fokussieren – und nicht auf das Unterrichtsgeschehen.

Um unsere Grundbedürfnisse zu befriedigen und sie vor Verletzung zu schützen, entwickeln wir Menschen motivationale Ziele. Wichtig ist dabei die Unterscheidung zwischen annähernden und vermeidenden Zielen.

Anhand von Oldboy und seinem glücklosen Protagonisten lassen sich diese Zusammenhänge gut veranschaulichen.

Es ist offensichtlich, dass alle seine Annäherungsziele kontinuierlich nicht erreicht werden. Weder kommt er beispielweise mit anderen Menschen in Kontakt, noch erhält er Hilfe oder schafft es aus eigener Kraft, der Situation zu entkommen.

Weniger offensichtlich aber genauso wichtig ist, dass auch alle seine Vermeidungsziele nicht erreicht werden. Das Abwenden von Kontrollverlust, Hilflosigkeit, Abhängigkeit und Erniedrigung – um nur einige wesentliche zu nennen – gelingt ihm ebenfalls dauerhaft nicht. 

Diese kontinuierliche Verfehlung der Annäherungs- und Vermeidungsziele führt nun zu einem hohen Inkongruenzniveau, d.h. es gibt eine starke Nichtübereinstimmung der realen Erfahrungen mit den motivationalen Zielen. Er erreicht schlicht nicht, was er braucht und möchte.  Diese Inkongruenz geht einher mit dauerhaft negativen Emotionen. Wenn er diese Emotionen bewusst erlebt, dann etwa als Angst, Wut oder Enttäuschung. Diese Emotionen bestehen aber nicht nur aus subjektiv erlebten Gefühlen. Ihre Aktivierung führt auch zu einer Kaskade physiologischer, hormoneller und neuronaler Reaktionen, die wiederum Veränderungen des Gehirns zur Folge haben.

Da dieser Stress dauerhaft auf das Gehirn einwirkt, setzt sich jetzt ein eskalierender Teufelskreis in Gang. Die anhaltend negativen Emotionen treffen auf ein immer schwächeres System, das ihnen immer weniger entgegenzusetzen hat. Zwar hat Oh Dae-su im Verlaufe seines bisherigen Lebens Mechanismen herausbildet, die Zustände großer Inkonsistenz herabregulieren können, aber mit diesem Level an Stress ist er letztlich überfordert. Um sich vor der weiteren Verfehlung seiner Annäherungs- und Vermeidungsziele zu schützen und also Konsistenz wiederherzustellen, schaltet sich sein erschöpftes Gehirn irgendwann selbst ab. Dieser Zustand massiv herabgefahrener Aktivitäten und einer fast vollständigen Blockierung der Grundbedürfnisbefriedigung ist die Depression.

Warum sind Grundbedürfnisse für mich als Lehrkraft relevant?

In der Geschichte der Psychologie hat es zahlreiche Versuche gegeben, menschliche Grundbedürfnisse zu definieren. Dabei bestand und besteht weiterhin kein Konsens über die Anzahl und Definition dieser Bedürfnisse und ihre Abgrenzung voneinander. An ihrer existenziellen Bedeutung für den Menschen besteht aber kein Zweifel.

In meinen Ausführungen folge ich vor allem der Konsistenztheorie von Klaus Grawe (Grawe 2004), ergänzt durch eine aktuelle neurowissenschaftliche Arbeit von Andy Habermacher (Habermacher et al, 2020) Ich mache aber auch den Versuch, eine weitere Theorie in mein Konzept zu integrieren. Dabei handelt es sich um die sehr stark rezipierte und auf breiter empirischer Evidenz stehende Self-Determination Theory der beiden amerikanischen Psychologen Richard Ryan und Edward Deci. 

All diese Theorien zusammengenommen führen für uns als Lehrkräfte zu einer zwar einfachen, aber letztlich sehr weitreichenden Grundannahme: Optimaler Unterricht entsteht dann, wenn die Grundbedürfnisse von Lernenden und Lehrenden in Einklang gebracht, sowie situativ und strukturell befriedigt werden.

Ich arbeite seit über 20 Jahren als Lehrer und habe mich in dieser Zeit oft gefragt, warum ich und andere so unterrichten, wie wir unterrichten. Viele Methoden und Annahmen über guten Unterricht erscheinen mir dabei fragwürdig – ohne dass ich genau hätte sagen können, warum. Heute sehe ich meine Verantwortung darin, meinen Schülern ein Umfeld zu bereiten, das ihre Grundbedürfnisse befriedigt, damit sich das Beste in ihnen zeigt und sie ihre Potentiale voll ausschöpfen können.

Und diese Potentiale warten nur darauf, sich zu entwickeln. Wir Menschen sind von Natur aus neugierige, proaktive und zutiefst soziale Wesen. Wir haben eine starke intrinsische Motivation, Interessen zu entwickeln und darauf aufbauend tiefgehendes Wissen über unsere innere und äußere Welt zu erwerben. Das ist eine Grundannahme der humanistischen Psychologie – und dieses Menschenbild ist auch die Basis aller moderner Bildungsansätze.

Das Denken in Grundbedürfnissen hat meinen Blick auf Unterricht grundlegend verändert. Heute ist es das Gravitationszentrum meiner Unterrichtsphilosophie. Endlich habe ich das Gefühl, dass ich wirklich weiß, was ich tue. Endlich kann ich – ausgehend von den Bedürfnissen aller Beteiligter – erklären, was objektiv guter Unterricht ist – und was nicht.

Eigentlich ist das gar nicht so schwierig. Man muss nur die verschiedenen Grundbedürfnisse kennen und verstehen.

Erstes Grundbedürfnis: Bindung und Bezogensein  

Prinzipiell können wir bei Erwachsenen davon ausgehen, dass alle psychischen Grundbedürfnisse gleichrangig nebeneinander stehen. Wenn wir uns aber die Entwicklung eines Menschen anschauen, ist klar, dass dem Bedürfnis nach Bindung anfangs die höchste Bedeutung zukommt. Die Befriedigung aller anderen Bedürfnisse hängt bei Säuglingen und Kindern nahezu in vollem Umfang davon ab, dass sie sichere Bindungen zu Bezugspersonen aufbauen können.

Obwohl es das Bindungsbedürfnis in der Psychologie lange schwer hatte, gilt es heute als das empirisch am besten abgesicherte Grundbedürfnis. Insbesondere die Forschungen des britischen Psychologen John Bowlby, dem Begründer der Bindungstheorie, haben gezeigt, welche langfristigen Folgen frühe Bindungserfahrungen haben. In den ersten Lebensjahren formen diese ein „inneres Arbeitsmodell“, dessen diverse Ausprägungen man als Bindungsmuster bezeichnet. Diese zeigen sich über das ganze Leben sehr stabil und haben in ihren sogenannten unsicheren Varianten (ca. ein Drittel der Kinder) teils sehr problematische Auswirkungen.

Bei unseren sozialen Bedürfnissen geht es aber nicht nur darum, sich von anderen umsorgt zu fühlen. Ein zweiter Aspekt ist das Bezogensein, also das Gefühl, für andere von Bedeutung zu sein. Genauso wichtig wie Bindung ist die Erfahrung, dass man anderen etwas geben oder zu ihrem Leben beitragen kann.

Bezogensein bezieht sich darüber hinaus auch auf das Gefühl, sozial eingebunden zu sein.  Das heißt sowohl sich nahestehenden Personen verbunden zu fühlen, als auch durch das Dazugehören zu einer Gruppe und eigene Beiträge zu deren Funktionieren ein tiefes Gefühl von Zugehörigkeit zu erfahren.

Das gilt natürlich auch für den Unterricht. Das Grundbedürfnis nach Bindung und Bezogensein ernst zu nehmen, bedeutet deshalb für uns Lehrer Verantwortung dafür zu übernehmen, dass sich das Sozialleben der Schüler nicht nur in der unterrichtsfreien Zeit abspielt. Die Hauptfrage, die ich mir immer wieder stellen muss, ist Folgende: wie kann ich mit meiner Unterrichtsorganisation, der Auswahl der Aktivitäten und dem stark von mir abhängigen Klassenklima dazu beitragen, dass meine Schüler zu allen Anwesenden sich vertiefende Bindungen entwickeln? Das beinhaltet auch ganz ausdrücklich mich, die Lehrkraft.

Daraus leiten sich dann weitere Fragen ab, die unterschiedliche Aspekte von Bindung und Bezogensein beinhalten: Altruismus, Hilfe, Geselligkeit, wie auch die Angst vor Isolation: 

  • Wie könnte ich meinen Schülern im Unterricht mehr Gelegenheit geben, andere zu unterstützen?

  • Welche Art von Aufgaben könnte ich meinen Schülern geben, die ihnen die Chance geben, alle ihre Mitschüler neu und besser kennenzulernen – und nicht nur den aktuellen Sitznachbarn?

  • Wie könnte ich mich nahbarer und menschlicher zeigen?

  • Was könnte ich tun, dass meine Schüler weniger Angst haben, mich und meinen Unterricht zu hinterfragen und zu kritisieren?

  • Wie müsste mein Unterricht organisiert sein, damit ich mich mehr mit meinen Schülern verbunden fühle?

Bindung an der Schule hat viel mit dem Abbauen von Mauern zu tun, die Schüler und Lehrkräfte um sich hochgezogen haben. Diese Distanz mag ein Schutz sein, gleichzeitig führt sie aber auch dazu, dass unsere Lernenden uns als ferne und bewertende Autoritäten wahrnehmen – und weniger als Menschen, die sie auf ihrem Lernprozess begleiten und unterstützen. Damit uns aber unsere Schülerinnen und Schüler diese Rolle abnehmen, braucht es verbindende Momente der Ehrlichkeit.

Das folgende Beispiel illustriert so einen Moment sehr eindrücklich, auch wenn ich dieses Vorgehen kaum zur Nachahmung empfehlen kann.

Vor ein paar Jahren ist ein guter Freund von mir völlig unerwartet an einem Aneurysma verstorben. Die Nachricht von seinem Tod hat mich auf dem Weg ins Klassenzimmer erreicht. Dort angekommen war an normalen Unterricht natürlich nicht zu denken. Wenn der Lehrer weinend auf dem Pult sitzt, erwartet niemand business as usual. Also habe ich der Klasse von meinem Freund erzählt und wie er gestorben ist. Und von seiner Frau und seinem neugeborenen Sohn, den ich ein paar Tage zuvor zum ersten Mal auf dem Arm gehabt hatte, und den mein Freund nicht aufwachsen sehen würde.

Meine Schüler hörten betroffen zu. Und dann geschah etwas Wunderbares: anstatt in betretene Stille zu verfallen, begannen sie von eigenen Erfahrungen zu erzählen. Sie sprachen über Großeltern, Eltern, Geschwister und Freunde, die sie verloren hatten. Sie sprachen davon, wie sich das angefühlt hat, und wie es sich noch heute anfühlt. Ich weiß nicht, ob sie mich trösten wollten – oder ob ihnen das einfach nur als das Richtige erschien. Alles geschah ganz organisch und ungezwungen. Für diese 90 Minuten war alles ganz klar und einfach: ein Zustand völliger Konsistenz – trotz des traurigen Auslösers.

Haben die Schüler an diesem Tag fachlich etwas gelernt? Nun ja, sie haben ohne darüber nachzudenken die ganze Zeit Deutsch gesprochen, was nicht ihre Muttersprache war. Aber der eigentlich Lerneffekt war auf der Beziehungsebene. Sie haben sich mir nahe gefühlt – und ich mich ihnen.

Die Stimmung in dieser Klasse war danach eine andere. Es wurde konzentriert und gemeinschaftlich gearbeitet. Wir sind zusammengewachsen – und also miteinander gewachsen.   

Wenn man mich fragt, was der beste Unterricht meines Lebens war, wähle ich ohne zu zögern diesen 9. Dezember 2019.

Zweites Grundbedürfnis: Kontrolle und Autonomie

Das zweite schon im Säuglingsalter zentrale Bedürfnis ist das nach Kontrolle. Das ist übrigens etwas, was wir Lehrer viel zu selten abgeben. Wir Menschen müssen sowohl Einfluss auf die äußere Welt wie auch auf unsere Innenwelt nehmen, um zu funktionieren und um unsere Bedürfnisse zu befriedigen.

Im Leben machen wir ständig die Erfahrung, dass wir erreichen, was wir angestrebt haben- oder dass wir es nicht erreichen. Wir machen also ständig positive oder negative Kontrollerfahrungen.

Je nach den Lebenserfahrungen, die wir bezüglich unseres Kontrollbedürfnisses in der Kindheit machen, entwickeln wir Grundüberzeugungen darüber, ob Voraussehbarkeit und Kontrollmöglichkeit bestehen, und ob es sich lohnt, sich einzusetzen und sich anzustrengen.   

Beim Kontrollbedürfnis geht es aber nicht nur darum, situativ Kontrolle auszuüben, sondern auch darum, sich einen möglichst großen Handlungsspielraum zu erhalten. Es ist also ein Bedürfnis, etwas zu können, was zur Herbeiführung der eigenen Ziele in der Zukunft wichtig ist.

Wie bei allen anderen Grundbedürfnissen auch können wir hier sehen, dass sie auf diversen Ebenen bzw. Zeitachsen wirksam sind. Das ist für uns als Lehrkräfte von höchster Relevanz, weil wir natürlich regelmäßig und über einen längeren Zeitrahmen mit unseren Schülerinnern und Schülern zu tun haben.

Da ist zum einen die situative Ebene, die Unterrichtsstunde. Die nächste Ebene wäre die aktuelle Ebene, das entspricht zum Beispiel dem laufenden Kurs, der Zeit zwischen zwei Ferienblöcken oder dem Schuljahr. Die strukturelle Ebene schließlich umfasst mehrere Jahre bzw. die gesamte Schul- und Ausbildungszeit.   

Teil unserer Aufgabe als Lehrer ist es, unseren Unterricht und unser Verhalten so zu gestalten, dass wir die Grundbedürfnisbefriedigung unserer Schüler auf allen Zeitachsen fördern – ohne Zweifel eine enorme Herausforderung!

Autonomie ist der zentrale Begriff in der Self-Determination Theory. Anders als man vielleicht denken könnte, hat Autonomie nichts mit Unabhängigkeit oder Autarkie zu tun. Vielmehr ist es der zentrale Punkt dieses Bedürfnisses, dass es dem Menschen ein ganz wesentliches Anliegen ist, sich auf eine Art zu verhalten, die er als selbstbestimmt empfindet. Während es bei Kontrolle um das geht, was man möchte, geht es bei Autonomie darum, woher das, was man möchte, kommt und „wer in uns etwas möchte“ – der Ursprung des Wollens sozusagen.

Nur ein Teil unserer willentlich herbeigeführten Handlungen kann als selbstbestimmt bezeichnet werden. Andere werden von externen Akteuren oder eher wenig integrierten Aspekten des Selbst gesteuert. In diesem Sinne kann eine Person handeln, ohne ein Gefühl der Selbstbestimmtheit, d.h. eine tiefe innere Zustimmung zu dieser Handlung zu haben. Tatsächlich wird ein Großteil des menschlichen Verhaltens durch innere oder äußere Zwänge initiiert, die echte Selbstbestimmtheit umgehen.  

Ganz wesentliche Begriffe hier sind intrinsische und extrinsische Motivation. Auch wenn diese Ausdrücke wahrscheinlich bekannt sind, lohnt sich eine nähere Beschäftigung damit, um beide Konzepte besser voneinander abzugrenzen.    

Intrinsische Motivation bezeichnet eine Motivation, die aus dem inneren Antrieb einer Person entsteht, etwas zu tun, weil es an sich interessant, angenehm oder befriedigend ist. Es handelt sich um die selbstbestimmteste Form der Motivation. Sie ist somit die grundlegende Ausdrucksform der menschlichen Neugier. Wenn Menschen intrinsisch motiviert sind, bewegen sie sich autonom auf neue Herausforderungen zu und erweitern ihr Verständnis von der Welt. Sie handeln aus Interesse und Inspiration, suchen nach Anregungen und testen und überschreiten ihre Grenzen.

Ein Paradebeispiel für intrinsische Motivation ist die Entdeckerlust von kleinen Kindern. Der Großteil der Handlungen, die sie tagtäglich ausführen – durch das Haus laufen, neue Dinge anfassen, mit Spielzeug spielen – sind intrinsisch motiviert.  

Es ist eine interessante Frage, was mit diesem hohen Niveau an intrinsischer Motivation im Laufe der Kindheit geschieht. Studien zeigen eindeutig, dass die Lernmotivation in der Jugend stark nachlässt. Und wenn die Kinder dann als junge Erwachsene die Schule verlassen, ist nicht wenigen die Lust am Lernen gründlich vergangen. Durch Druck, Kontrolle und Strafen wurde ihnen ihre natürliche Entdeckerlust systematisch ausgetrieben.

Extrinsische Motivation ist als Konzept nicht so intuitiv verständlich wie intrinsische Motivation. Als  Menschen sind wir innerhalb der sozialen Ordnung ständig äußeren Zwängen ausgesetzt. Andere schreiben uns vor, wie wir uns verhalten sollen, oder möchten zumindest Einfluss auf unser Verhalten nehmen. Wenn wir Teil einer Gemeinschaft sein wollen, müssen wir uns an gewisse Normen halten. Je nachdem aber wir stark wir diese internalisieren, werden wir sie als weniger Autonomie-einschränkend erfahren. Für eine streng religiöse Person ist es beispielsweise deutlich einfacher, in einem theokratischen System zu leben als für einen Atheisten.

Dieser Prozess der Verinnerlichung von äußeren Zwängen kann auf einem Kontinuum abgebildet werden. In der sogenannten Organismic Integration Theory (OIT), einem Teilgebiet der Self-Determination Theory, werden vier Formen der äußeren Motivationssteuerung unterschieden: extern, introjiziert, identifiziert und integriert. Diese unterscheiden sich im Grad, wie sehr das eigene Handeln als fremd- bzw. selbstbestimmt empfunden wird.

Die Self-Determination Theory hat in zahlreichen Studien klar bewiesen, dass das Verhalten qualitativ besser und ausdauernder durchgeführt wird, je höher der jeweilige Grad an Autonomie ist. Umgebungen, die der Grundbedürfnisbefriedigung zuträglich sind, fördern dabei eine tiefere Internalisierung. Werden stattdessen die Grundbedürfnisse systematisch nicht befriedigt, findet kein Internalisierungsprozess statt.

Der Lehrplan ist ein gutes Beispiel, um dieses Autonomie-Kontinuum anschaulich zu machen. Die wenigsten Lehrer mögen die Einschränkungen, die ein Lehrplan bedeutet. Wenn es nur nach ihnen gehen würde, würden sie wahrscheinlich Themen bearbeiten, die sie mehr interessieren.

Jetzt gibt es aber sicherlich auch Lehrkräfte, die den Lehrplan und seine Inhalte insgesamt gut finden. Zwar mögen sie manche Themen kritisch sehen, viele aber auch interessant und wichtig. Diese jeweilige Einschätzung hat starken Einfluss auf ihre Motivation, die Qualität ihrer Arbeit und das subjektive Wohlbefinden während Vorbereitung und Unterricht.   

Externe Regulation

Bei der externen Regulation wird das Verhalten durch externe Belohnungen oder Bestrafungen gesteuert. Der Lehrer fühlt einen starken Druck, dem Lehrplan zu folgen. Er unterrichtet die Themen, weil das Ministerium und die Schulleitung dies verlangt und weil er Angst vor negativen Konsequenzen hat.

Der Lehrer würde sagen: „Ich halte mich an den Lehrplan, weil es sonst Ärger gibt.“

Introjizierte Regulation

Eine Introjektion bezeichnet in der Psychologie einen Inhalt, der von einer Person aus ihrer Umwelt aufgenommen und unbewusst in das eigene Selbst integriert wurde, ohne ihn kritisch zu hinterfragen oder vollständig zu verarbeiten. Es ist eine internalisierte Außenperspektive, die in Konflikt mit intrinsischen Motivationen kommen kann und dann zu enormen inneren Konflikten führt. Das Verhalten wird hierbei durch inneren Druck oder Schuldgefühle gesteuert. Der Lehrer fühlt sich verpflichtet, den Lehrplan zu befolgen, da er sonst das Gefühl hat, die Schüler zu enttäuschen oder den eigenen Standards nicht gerecht zu werden.

Der Lehrer würde sagen: „Ich halte mich an den Lehrplan, weil ich mich sonst schlecht fühlen würde.“

Es ist wichtig zu verstehen, dass nicht nur die externe, sondern auch die introjizierte Regulation sich als erzwungen und fremdbestimmt anfühlen. Das Verhalten wird als durch äußere Einflüsse verursacht erlebt. Dieses Gefühl von Fremdsteuerung führt zu geringerer Ausdauer und Freude an der Tätigkeit. 

Identifizierte Regulation

Ganz anders stellt sich der Sachverhalt bei der identifizierten Regulation dar. Hier macht sich der Lehrer die Inhalte des Lehrplans zu eigen. Es stört ihn nicht, dass er ursprünglich von oben kam. Er erachtet dessen Inhalte und Ziele, z. B. die Themen und die Förderung bestimmter Kompetenzen und Werte, als sinnvoll.

Der Lehrer würde sagen: „Ich halte mich an den Lehrplan, weil ich den Nutzen für meine Schüler sehe.“

Integrierte Regulation

Die Integration ist die höchste Stufe extrinsischer Motivation. Die Motivation ist nun vollständig in das eigene Denken und Handeln integriert und steht im Einklang mit den persönlichen Werten und Überzeugungen. Der Lehrplan deckt sich so stark mit der persönlichen Vision von Unterricht des Lehrers, dass er ihn als Teil seines pädagogischen Handelns versteht. Er ist zu 100% von dessen Sinn und Nutzen für seine Schüler und für sich selbst überzeugt.

Der Lehrer würde sagen: „Ich halte mich an den Lehrplan, weil er zu meinen eigenen Vorstellungen von gutem Unterricht passt.”

Die Frage, die sich jetzt natürlich stellt, ist folgende: was können wir Lehrer tun, damit unsere Schüler beim Lernen mehr Autonomie verspüren? Denn das hätte positive Auswirkungen auf ihr Wohlbefinden, die Qualität ihrer Motivation und also auf ihre Lust zu lernen. Bessere Leistungen wären davon eine natürliche Folge.

Schule wird immer als ein äußerer Zwang wahrgenommen werden. Das wesentliche Ziel besteht deshalb darin, den Grad an Internalisierung zu erhöhen: von eher fremdbestimmten Motivationen zu stärker identifizierten und integrierten. Dafür wäre es wichtig, dass sich Schule in ein Umfeld verwandelt, wo die psychischen Grundbedürfnisse der Schüler anerkannt und befriedigt werden.

Eine ganz besonders wichtige Rolle spielt hierfür das Bedürfnis nach Orientierung und Sinn, dem wir uns jetzt zuwenden.

Drittes Grundbedürfnis: Orientierung und Sinn

Orientierung bezeichnet die kognitive Komponente der Kontrolle. Es ist für uns zentral, dass wir Geschehnisse verstehen und in einen größeren kausalen Rahmen einordnen können: Was passiert gerade? Warum bin ich in dieser Situation? Warum soll ich das jetzt tun?

Sinn hingegen geht über die reine Orientierung hinaus und beschreibt das Bedürfnis, in den eigenen Handlungen und im Leben als Ganzem einen höheren Zweck zu finden. Es motiviert Menschen, Ziele zu verfolgen, die über den Moment hinausgehen, und gibt dem Leben Bedeutung.

Ein für das schulische Umfeld sehr wichtiger Faktor ist die Rolle von Orientierung und Sinn beim Internalisierungsprozess von externen Motivationen. Die Brücke zwischen einer externen Motivation – „Mach das, weil ich es dir sage!“ – und einer eher selbstbestimmten, identifizierten Motivation – „Ich verstehe, dass das wichtig ist, deshalb mache ich es gerne.“ – ist oft nicht viel mehr als eine Begründung. Diese Begründung versieht die externe Motivation (Aufforderung) mit einem orientierungs- und sinnstiftenden Kontext und sorgt für ein tieferes Verständnis für den Sinn der geforderten Handlung.

Eine Geschichte aus meiner Kindheit illustriert dieses Phänomen ganz wunderbar. Eines Tages, ich war vielleicht 10 oder 11, forderte mich mein Vater auf, mit ihm in die Werkstatt in der Garage zu kommen und ihm zu helfen. Lustlos hielt ich Bretter und reichte meinem Vater Werkzeug, das er verlangte. Konzentriert sägte er und schliff und schraubte, während ich mich schrecklich langweilte. Irgendwann schnauzte er mich an: „Reiß dich mal ein bisschen zusammen! Wir bauen hier schließlich ein neues Bett für dich!“

„Für mich?“, fragte ich überrascht – und hatte plötzlich eine identifizierte Motivation und somit deutlich mehr Lust meinem Vater zu helfen.  

Leider läuft das in vielen Klassenzimmern nicht wirklich anders. Wie viel Zeit verbringen wir ernsthaft damit, unseren Schülern zu erklären, warum wir machen, was wir machen und warum sie lernen, was sie lernen? Und wissen wir es eigentlich selbst so richtig? Oder wissen wir es, aber können es nicht erklären?

Situative Orientierung ist oft nicht schwierig. Meistens reicht – wie im Falle meines Vaters – ein Satz. Auf aktueller und struktureller Ebene ist das jedoch schon schwieriger. Egal ob wir einem Lehrplan folgen müssen oder nicht, es ist eine große Herausforderung unseren Unterricht auf kreative und für unsere Lernenden einsichtige Art in die Welt einzubetten. Nur daraus entsteht aber Orientierung und damit eine Motivation, die über die nächste Pause hinausreicht. In dieser Hinsicht hat sich unsere Arbeit durch die Jahrtausende kaum verändert: wir müssen Geschichten erzählen, die unsere Schülerinnen und Schüler neugierig machen auf die Welt. Geschichten, die ihnen den Stoff näherbringen, aus dem die Welt gemacht ist – und nicht nur der, der sich im Lehrplan findet.  

Ohne Zweifel hat sich irgendwo, irgendwann, irgendwer bei der Erstellung von Lehrplänen viele Gedanken gemacht, was in der aktuellen Welt gebraucht wird. Leider aber wurden in diesem Prozess Einzelteile abstrahiert und ohne Kontext und Narrativ in einen Lehrplan überführt. Lehrpläne sind willkürlich. Sie sind unvollständig, und sie veralten heute noch deutlich schneller als früher. Der deutsche Hochschullehrer Rolf Arnold hat dieses Phänomen als Eiszeitparadoxon bezeichnet.

Statt Besserwisser, die uns die Welt von gestern vorbeten, braucht es – so Arnold – Menschen, die die Lernenden auf ihren Wegen in die Welt von morgen begleiten. Die Inhalte, die sie nutzen, sind dabei nur ein Mittel zum Zweck, um den Lernenden wesentliche Kompetenzen und Werte zu vermitteln. Werte und Kompetenzen, die sie brauchen, um in einer sich wandelnden Welt zurecht zu kommen und sich immer wieder neu zu erfinden: kritisches Denken, Eigeninitiative, Teamfähigkeit, Vertrauen auf die eigenen Fähigkeiten und die Überzeugung, dass Ausdauer und Leidenschaft sich auszahlen werden. 

In der elften Klasse haben wir mal unseren Mathelehrer gefragt, warum wir all diese komplizierten Konzepte lernen, die niemand von uns brauchen wird – außer für ein Mathematikstudium.

Ein paar Tage später kam er in den Unterricht und sagte: Bücher weg, wir schauen uns den Aktienmarkt an!

In den nächsten Wochen hat uns dann einen Crashkurs gegeben in technischer Analyse. Er hat uns gezeigt, wie man Kursverläufe und Risiken analysiert und wie man tradet. Dann haben wir Teams gebildet und haben mit Spielgeldkonten um die Wette gehandelt. Um beim Traden besser zu werden, mussten wir uns natürlich weiter mit Mathematik beschäftigen. Also haben wir uns im Unterricht – und in den Pausen und zu Hause! – voller Begeisterung auf Statistik, Wahrscheinlichkeitsrechnung, Fibonacci-Folgen und Exponential- und Logarithmusfunktionen gestürzt. Vorher hatte das nur die Nerds interessiert, aber plötzlich fanden das alle wahnsinnig spannend.

Aus der Gruppe, die schließlich den Wettbewerb gewonnen hat, sind später tatsächlich zwei Investmentbanker geworden. Und auch ich – obwohl ich nie gut in Mathe war – interessiere mich noch heute für den Aktienmarkt und lege mein Geld dort an.  

Da sagt noch mal einer, dass wir in der Schule nichts für Lebens lernen können.  

Dass Schule so eine profunde Orientierung bietet, passiert leider viel zu selten. Meistens ist eher das Gegenteil der Fall. Viele Schüler wissen nicht, wofür sie – jenseits der nächsten Prüfung – lernen und worauf sie im Leben zusteuern. Diese Sinn- und Orientierungslosigkeit ist nicht nur ein Movitationshemmnis, sondern kann auch chronischen Stress auslösen, der sich in diversen Verhaltensweisen manifestieren kann: Wut, Aggression, Angst, Apathie.

Man stelle sich nur mal die Wellen negativer Emotionen vor, denen Oh Dae-su ausgeliefert sein muss, allein nur, weil er nicht weiß, wo er ist, warum er dort ist und wie lange er eingesperrt bleiben wird.

Diese Emotionen haben langfristig auf Gehirn und Psyche einen stark degenerativen Einfluss. Die Situation kann in keinen größeren Sinnzusammenhang eingeordnet werden, weshalb der Stress letztlich als nicht-kontrollierbar empfunden wird. Oh Dae-su macht keine positiven Kontrollerfahrungen und es findet demensprechend keine Entwicklung statt. Er wächst nicht an der Herausforderung, sondern lernt nur Angst, die sich verfestigt und verselbstständigt.

Für den Schulkontext ist die Unterscheidung zwischen kontrollierbarem und nicht-kontrollierbarem Stress von hoher Bedeutung. Unbewältigte Stressbelastungen und ein unbefriedigtes Kontrollbedürfnis können Lernende nämlich enorm belasten.

Man stelle sich einen schwachen Schüler vor, der nach vorne gerufen wird, um dort etwas vorzurechnen, das er nicht kann. Er steht ratlos an der Tafel, hinter ihm wird gewartet und gespottet. Versagensängste und Minderwertigkeitsgefühle mischen sich mit Scham und führen zu einem Gefühl der Erniedrigung. Es ist nur sehr schwer vorstellbar, wie diese Erfahrung einen motivierenden und positiven Einfluss auf den Lern- und Entwicklungsprozess des Schülers haben könnte.

Sowohl die Self-Determination Theory wie auch die Konsistenztheorie zeigen eindeutig, dass diese Situation bei regelmäßigem Auftreten einen außerordentlich destruktiven Einfluss auf die Motivationslage hat und zudem zu starkem Vermeidungsverhalten führt. Die Aufmerksamkeit des betroffenen Schülers wird von antizipatorischer Angst eingenommen und fokussiert sich ganz auf die Vermeidungsziele Versagen, Hilflosigkeit, Erniedrigung und Geringschätzung. Dies wiederum erschwert die Teilnahme am Unterricht und lässt die Leistungen weiter sinken. Ein Teufelskreis, der darin endet, dass der Schüler sich als unfähig empfindet, Schule als Angst-Ort wahrnimmt und Lernen mit unangenehmen Gefühlen verbindet.  

Das soll aber keinesfalls heißen, dass Lernenden ungewohnte Situationen erspart werden sollten. Ganz im Gegenteil: als kontrollierbar erfahrener Stress führt zu wichtigen Lernerfahrungen. Schüler brauchen vielfältige Herausforderungen, denn diese führen zur Herausbildung immer komplexerer und differenzierter neuronaler Schaltkreise.  

Solche positiv bewältigte Stressbelastungen führen zudem zu einer besseren Stressresistenz und zu wachsenden internalen Kontrollüberzeugungen. Und diese wiederrum führen zu mehr Lebenszufriedenheit, Wohlbefinden und Selbstvertrauen.

Auf diesen letzten Punkt werden wir jetzt genauer eingehen.     

Viertes Grundbedürfnis: Kompetenz und Selbstwerterhöhung

Kinder sind nicht nur neugierig und entdeckungslustig, sondern legen auch eine bemerkenswerte Energie an den Tag, wenn es darum geht, neue Kenntnisse und Fähigkeiten zu erlangen. Dabei haben sie auch einen enormen Ehrgeiz, diese immer besser zu beherrschen. Von zahlreichen Rückschlägen lassen sie sich kaum bremsen, sonst würden wir Menschen auf allen Vieren durch die Welt krabbeln. 

Es fühlt sich gut an, etwas zu können, d.h. sich als kompetent zu erfahren. Vor allem, wenn man es sich vorgenommen hat und es dann genauso umsetzt. Man denke an den triumphierenden Gesichtsausdruck eines Kleinkindes, das mit Bauklötzen erst einen Turm baut und ihn dann umwirft – einfach, weil es das kann.

Kinder erweitern ihre Fähigkeiten nicht geplant, sondern sie genießen die Aktivitäten als solche. Sie sind intrinsisch motiviert, und das Gefühl sich selbst als kompetent wahrzunehmen, steigert diesen Genuss weiter. In der Psychologie wird das als Selbstwirksamkeit bezeichnet. Sie ist ein wichtiger Aspekt des Selbstbewusstseins und beschreibt die Überzeugung, etwas durch eigenes, zielführendes Handeln bewirken zu können. In diesem Konzept verbinden sich sozusagen Kompetenz und Kontrolle.

Das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung beinhaltet all diese Elemente. Es ist überhaupt von allen hier vorgestellten psychischen Grundbedürfnissen ohne Zweifel das komplexeste, menschlichste – und möglicherweise für uns das wichtigste. „People want to feel good about themselves.“ Im Englischen kann dieses Bedürfnis in einen ganz einfachen Satz gefasst werden.

Was bedeutet dies für den Unterricht und unsere Arbeit als Lehrer? Die Aufgabe, die uns daraus erwächst, lässt sich in einen Satz packen. Die Herausforderungen aber, die sie mit sich bringt, sind immens. Es gilt, den uns Anvertrauten mit passenden Aufgaben und Erfahrungen die Möglichkeit zu geben, in jeder Schulstunde, jedem Schuljahr und über die Schuljahre hinweg ihr intellektuelles und persönliches Selbstvertrauen weiterzuentwickeln.

Diese Form der Persönlichkeitsbildung, für die wir Lehrkräfte auch zuständig sind – wenn wir unsere Arbeit wirklich ernst nehmen wollen – beinhaltet einen erheblichen Fokus auf Lernkompetenz, die Herausbildung von Interessen und ein solides Vertrauen in die eigenen Begabungen und Fähigkeiten.

Mindestens zwei Dinge stehen den Heranwachsenden hier im Weg.

Das erste ist der ständige soziale Vergleich in Form von Noten.

Diese bedeuten, dass den Fähigkeiten und Anstrengen jeden Schülers ein „objektiver“ Wert beigemessen wird, der sie dann in der Gruppe vergleichbar macht. Während das für „bessere“ Schüler schon problematisch ist, hat diese Praxis für schwächere Schüler oft katastrophale Auswirkungen auf Selbstvertrauen und Motivation.

Dass schlechte Noten dem Selbstwert und damit weiterem schulischem Erfolg abträglich sind, ist nicht nur wissenschaftlich belegt, sondern auch den meisten Lehrkräften intuitiv klar. Trotzdem spielen wir alle das teuflische Spiel mit. Ein weit verbreiteter Irrglaube spielt dabei eine wichtige Rolle: Noten seien wie Geld. Wenn man hart arbeite, bekomme man mehr. Wenn man also weniger bekommt, wird man motiviert sein, härter zu arbeiten.

Doch diese Annahme ist hoch problematisch. Glauben wir wirklich, dass Schüler, die konsequent schlechte Noten erhalten, motiviert werden zu lernen? Vielmehr ist doch anzunehmen, dass viele Schüler diese negativen Bewertungen als Urteil über ihre Fähigkeiten anstatt über ihre Anstrengungen auffassen. Und die Schlussfolgerung lautet dann: ich kann nichts – ich tauge zu nichts! 

Jetzt können wir Noten nicht immer vermeiden. Aber als Lehrer sollten wir uns die Frage stellen, ob wir unseren Fokus auf Selektion oder doch lieber auf Bildung legen wollen. Natürlich ist der gesellschaftliche Kontext, in dem wir uns bewegen, schwierig, und wir sind vielen Zwängen, fehlenden Ressourcen und auch eigenen Unzulänglichkeiten ausgesetzt.

Richard Ryan, einer der Begründer der Self-Determination Theory, hat mal gesagt: "It's raining out there, and your job is to hold an umbrella over you and your students, and create the best climate there that you can."

Aber wie halte ich als Lehrer eigentlich diesen Regenschirm?

Damit kommen wir zu dem zweiten Faktor, der unsere Schüler allzu oft davon abhält in der Schule ihr Selbstwertpotential voll auszuschöpfen: unsere eigenen psychischen Grundbedürfnisse – und deren mitunter problematische Befriedigung.

Denk mal an eine Situation, in der du im Unterricht herausgefordert oder provoziert wurdest. In fast jeder Klasse gibt es Schüler, die plötzlich mehr wissen als wir, etwas besser können, die lustiger und schlagfertiger sind – oder uns mit ihrem aufsässigen Verhalten auf die Palme bringen.    

Wir Lehrkräfte sind auch nur Menschen, und wir haben – wie alle Menschen – ein Bedürfnis nach Kompetenz, Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz.  

Wir wollen diesen Schülern dann möglicherweise beweisen, was wir alles können, wer hier der Chef ist und dass wir uns von einem Halbwüchsigen nicht die Butter vom Brot nehmen lassen. Und den Faulen und Renitenten wollen wir mit aller Kraft beweisen, dass sie nicht nur falsch liegen, sondern auch falsch sind – und überhaupt auf dem falschen Weg sind.

Wir oft predigen wir zu uns selbst, zu dem Kind in uns, anstatt diesen jungen Menschen wirklich zuzuhören?

Und sagt ihr Desinteresse an unserem Unterricht nicht möglicherweise mehr über unseren Unterricht aus als über ihren Charakter?

Weil wir selbst überfordert sind, überfordern wir unsere Schüler oder fordern sie falsch. Wir geben ihnen beständig negatives Feedback in allen möglichen Varianten: Noten, Vergleiche, Strafen. Wir glauben, nur wer konsequent auf seine Fehler hingewiesen wird, wird besser. Also schrecken wir auch vor persönlicher Kritik nicht zurück; Kritik, die schlimmstenfalls auf ihre Person abzielt – und nicht auf ihre Bemühungen.

Wir halten diese Menschen klein, möglicherweise für immer, obwohl es unser Job wäre, sie groß zu machen.

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Damit wir diese Art von Person im Unterricht nicht sind, müssen wir darauf achten, dass auch unsere Grundbedürfnisse befriedigt werden. Unser Bedürfnis nach Bezogensein, nach Autonomie und Kontrolle, nach Orientierung und Sinn – und natürlich nach Selbstwerterhöhung. Wir haben eine Pflicht uns selbst gegenüber, dafür zu sorgen, dass es uns umfassend gut geht. Und nicht nur in jeder Schulstunde, sondern auch auf lange Sicht. Nur dann können wir auch die Lehrinnen und Lehrer sein, die wir sein wollen, und die unsere Lernenden verdienen.   

Deswegen denke ich regelmäßig darüber nach, wie ich meine eigenen Grundbedürfnisse im und um den Unterricht herum befriedigen kann. Wenn ich mich in der Schule oder mit meiner Arbeit unwohl fühle, schaue ich genau hin: welches meiner Grundbedürfnisse wird gerade nicht befriedigt? Welchen Bedürfniskonflikt habe ich vielleicht gerade? Was kann ich dagegen tun?

Denn die Folgen einer andauernden Nicht-Befriedigung sind erheblich: allgemeines Unwohlsein, soziale Distanzierung, mangelnde Initiative und Motivation, Orientierungslosigkeit, Sinnleere, geringes Selbstbewusstsein – und ganz wenig Freude and Lernen und Unterrichten.   

Fünftes Grundbedürfnis: Lustgewinn und Unlustvermeidung

Damit Schule sich weder für unser Schülerinnen und Schüler noch für uns wie das anfangs beschriebene Gefängnis anfühlt, müssen alle fünf Grundbedürfnisse regelmäßig befriedigt werden. Vier davon haben wir bereits kennengelernt und kommen jetzt zum letzten: Lustgewinn und Unlustvermeidung.

Dieses ist das offensichtlichste aller Bedürfnisse und das unserem Erleben am besten zugängliche. Alles, was wir erleben, teilen wir in „gut“ und „schlecht“ ein. Von lustvollen Erlebnissen wollen wir mehr, Unlust möchten wir dagegen möglichst nicht noch einmal erleben. Grundsätzlich aktiviert daher eine positiv erlebte Situation unser Annäherungssystem und eine negative Situation unser Vermeidungssystem.

Reize werden jedoch nicht ausschließlich nach ihren Wirkungen an den Sinnesorganen bewertet, sondern es fließen dabei auch Zukunftserwartungen und erlernte Bewertungen des Umfeldes ein.

Der objektive Geschmack von Bier beispielsweise ändert sich nicht. Kinder finden es eklig, viele Erwachsene aber lieben es. Dieses „Geschmacksumlernen“ findet nicht an den Geschmacksknospen statt, sondern im Gehirn. Motive wie der Wunsch nach Zugehörigkeit und Selbstwerterhöhung spielen dabei eine wichtige Rolle. Es fließen also Bewertungen ein, die mit dem Geschmack selbst nichts zu tun haben, sondern von wichtigen motivationalen Zielen bestimmt werden. Das Bier schmeckt schließlich trotz seiner Bitterkeit, weil man sich erwachsen fühlen und auch zu denen gehören möchte, die es trinken.

Das bedeutet also, dass Dinge, die eigentlich nicht lustvoll sind, lustvoll werden können. Es kommt einzig darauf an, was wir damit verbinden. Das gilt natürlich auch für Kinder. Kognitiv-emotionale Bewertungen lösen eine von Kind zu Kind teils erheblich unterschiedliche Reaktion auf die gleiche Situation aus.

Das ist für uns als Lehrer wichtig zu wissen. Es bedeutet nämlich nichts anders, als dass wir unseren Schülern unterschiedlich Lustvolles darbieten müssen. Damit meine ich Abwechslung, auch und gerade innerhalb einer Stunde. Jeder muss auf seine Kosten kommen, nicht nur die, die zufällig so ticken wie wir. Die Atmosphäre sollte mal hochkonzentriert, mal entspannt sein. Manche stehen auf Trockennahrung, wieder andere brauchen Wettbewerb oder andere körperlich-sinnliche Erfahrungen. Es sollte immer etwas zu lachen geben und manchmal auch zum Nachdenken. Selbst Traurigkeit kann als etwas Positives empfunden werden, wenn wir sie als bedeutende Erfahrung wahrnehmen.

Guter Unterricht ist im Prinzip wie eine Achterbahnfahrt. Und niemand möchte 45 Minuten auf gerader Strecke auf einen Looping zufahren, den es gar nicht gibt. Es liegt in unserer Macht und Verantwortung für einen lustvollen Kontext zu sorgen. Dafür haben wir viele verschiedene Möglichkeiten. Hinweise auf die Zukunft oder auf die Prüfung nächste Woche sind aber meist nicht genug.

Denn eines dürfen wir nicht vergessen: wenn wir keine lustvollen Kontexte anbieten, werden unsere Schüler diese selbst schaffen. Wenn die Grundbedürfnisse nicht erfüllt werden, fällt automatisch ein zunehmender Teil der Aufmerksamkeit auf deren Befriedigung. Diese kann dabei in der inneren oder der äußeren Welt gesucht werden.

Wenn ich als Lehrer 30 Minuten über ein langweiliges Thema monologisiere, verletzte ich aller Wahrscheinlichkeit nach mehrere Grundbedürfnisse meiner Lernenden. Die Reaktionen darauf können jetzt entweder vermeidend oder annährend verlaufen: manche flüchten sich in angenehme Tagträume, während andere proaktiv ihre Bedürfnisse im Kontakt mit der Außenwelt befriedigen.

Ein Schüler würde sich zum Beispiel melden und eine Frage stellen, um ein Stück weit Kontrolle über das Geschehen zurückzuerobern. Ein anderer fühlt sich veranlasst, seinem Nachbarn einen Bleistift in den Oberschenkel zu stechen, um Selbstwirksamkeit, Kompetenz und Bezogensein zu erfahren. Letztlich können wir noch so sehr auf eiserne Disziplin bestehen: gegen ihre Grundbedürfnisse sind Menschen ziemlich machtlos – und umso mehr so, je jünger sie sind.

Warum also gegen etwas angehen, wenn man es sich auch zunutze machen kann?

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Dieser Text hat mit einer Beschreibung von größter Inkonsistenz begonnen. Wir haben mit Oh Dae-su mitgelitten und sein Leid immer wieder als Beispiel herangezogen. Deshalb möchte ich nicht mit einem Bleistift im Oberschenkel und dem Gefühl von Machtlosigkeit enden. Stattdessen möchte ich mich dem genauen Gegenteil zuwenden: nämlich dem Zustand von völliger Konsistenz.

Der Inbegriff des intrinsisch motivierten Zustandes und damit ein intensiver geistiger Genuss ist das, was der amerikanische Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi als flow experience bezeichnet hat:

„When the information that keeps coming into awareness is congruent with goals, psychic energy flows effortlessly. There is no need to worry, no reason to question one's adequacy. But whenever one does stop to think about oneself, the evidence is encouraging: ‘You are doing all right’. We have called this state the flow experience, because this is the term many people used in their descriptions of how it felt to be in top form.“

Was Csikszentmihalyi hier beschreibt, ist eine völlige Übereinstimmung motivationaler Ziele und aktueller Wahrnehmungen. Die ablaufende psychische Aktivität wird durch keine gegensätzlichen Intentionen gestört. Alle unsere Grundbedürfnisse sind befriedigt. Unser Bewusstsein und unsere Handlungen werden eins. Wir sind optimal gefordert, haben klare Ziele und verlieren jegliches Zeitgefühl.

Wir alle kennen diesen Zustand, wir haben ihn selbst schon erfahren. Sei es beim Spielen, beim Sport, mit Freunden – oder beim Lesen und Lernen. Wir wissen, wie angenehm und produktiv dieser Zustand ist. Wir wissen, dass wir unsere besten Erfahrungen und unsere beste Arbeit in diesem Zustand gemacht haben. Wenn wir klug sind, werden wir versuchen, uns regelmäßig in diesen Zustand zu versetzen, einfach weil es sich gut anfühlt und gut für uns ist.

Wie oft erfahren deine Schülerinnen und Schüler diesen Zustand in deinem Unterricht?

Du würdest es an ihren Gesichtern sehen – und an ihrer Körperhaltung. Und daran, dass sie plötzlich aufschrecken, wenn die Glocke zur Pause klingelt. Du würdest es daran erkennen, dass sie mit strahlenden Gesichtern ins und aus dem Klassenzimmer laufen. Sie würden lernen, ohne zu merken, dass sie lernen. Sie wären glücklich – und du auch, weil du sie zu diesem Zustand hingeführt hast.

Es gibt kein schöneres Gefühl für eine Lehrkraft als am Rande des Klassenzimmers zu stehen, den Kindern beim selbstständigen Lernen zuzuschauen und voller Stolz zu denken: Es läuft.

Natürlich ist dieser Zustand kein Dauerzustand – und kann es auch gar nicht sein. Wir wissen, wie vergänglich er ist. Gerade deshalb gilt es, ihn immer wieder als Ziel zu verfolgen. Tag für Tag.

Mein Opa hat immer gesagt: Nicht jeder, der einen Fuchs jagt, fängt einen. Aber wer einen fängt, hat einen gejagt. 

Oder anders ausgedrückt: wir können nichts erreichen, wenn wir es nicht versuchen.

Versuchen wir es also, es lohnt sich.

Für unsere Lernenden – und für uns.